Guillain-Barré-Syndrom: Wenn das Immunsystem die eigenen Nerven angreift

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Was ist das Guillain-Barré-Syndrom?

Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) ist eine seltene, aber potenziell schwerwiegende neurologische Erkrankung, bei der dein eigenes Immunsystem die peripheren Nerven angreift. Diese Fehlreaktion des Immunsystems führt zu Entzündungen, die die schützende Myelinschicht der Nerven beschädigen und dadurch die Übertragung von Nervensignalen beeinträchtigen.

GBS kann Menschen jeden Alters und Geschlechts treffen, tritt jedoch häufiger bei Erwachsenen und älteren Menschen auf. Weltweit erkranken etwa 1-2 Personen pro 100.000 Einwohner jährlich an dieser Autoimmunerkrankung.

Was das Guillain-Barré-Syndrom besonders heimtückisch macht, ist die Geschwindigkeit, mit der es sich entwickeln kann. Innerhalb von Tagen oder sogar Stunden können Betroffene von leichten Symptomen zu schweren Lähmungen fortschreiten, die in einigen Fällen sogar die Atemmuskulatur betreffen.

Ursachen und Risikofaktoren

Die genaue Ursache des Guillain-Barré-Syndroms ist bis heute nicht vollständig geklärt. Forscher haben jedoch beobachtet, dass GBS häufig nach einer Infektion auftritt. Es wird angenommen, dass das Immunsystem, während es gegen die Infektion kämpft, fälschlicherweise körpereigene Nervenstrukturen angreift, weil diese den Erregern in ihrer molekularen Struktur ähneln. Dieses Phänomen wird als molekulare Mimikry bezeichnet.

Häufige Auslöser für GBS können sein:

  • Infektionen der Atemwege: Etwa zwei Drittel der GBS-Fälle treten nach einer Infektion der oberen Atemwege oder einer Lungenentzündung auf.
  • Magen-Darm-Infektionen: Insbesondere Infektionen mit dem Bakterium Campylobacter jejuni, das häufig Lebensmittelvergiftungen verursacht, werden mit GBS in Verbindung gebracht.
  • Virale Infektionen: Verschiedene Viren wie das Epstein-Barr-Virus (Verursacher des Pfeifferschen Drüsenfiebers), Zytomegalievirus, das Zika-Virus oder auch Influenzaviren können GBS auslösen.
  • Seltene Auslöser: In einigen Fällen kann GBS nach Operationen, nach Impfungen oder während der Schwangerschaft auftreten. Diese Fälle sind jedoch selten und das Risiko, an GBS zu erkranken, ist im Vergleich zum Nutzen von Impfungen verschwindend gering.

Es ist wichtig zu verstehen, dass GBS keine ansteckende Krankheit ist. Du kannst dich nicht durch den Kontakt mit einer betroffenen Person mit GBS infizieren.

Symptome des Guillain-Barré-Syndroms

Die Symptome des GBS entwickeln sich meist rasch und können innerhalb von Stunden oder Tagen voranschreiten. In typischen Fällen beginnen die Symptome in den Beinen und breiten sich nach oben aus. Diese Progression kann sich über einige Tage bis hin zu vier Wochen erstrecken, bevor sie ihren Höhepunkt erreicht.

Frühe Symptome:

  • Kribbeln oder Taubheitsgefühle: Oft beginnt GBS mit einem Kribbeln oder Taubheitsgefühl in den Füßen oder Händen.
  • Muskelschwäche: Eine zunehmende Schwäche in den Beinen, die sich oft symmetrisch (auf beiden Seiten gleichzeitig) manifestiert und sich nach oben ausbreiten kann.
  • Ermüdungserscheinungen: Ungewöhnliche Müdigkeit und eine allgemeine Erschöpfung können frühe Anzeichen sein.

Fortschreitende Symptome:

  • Lähmungserscheinungen: Die Muskelschwäche kann zu Lähmungen führen, die von den Beinen aufsteigen und Arme, Gesicht und sogar die Atemmuskulatur betreffen können.
  • Reflexverlust: Ein charakteristisches Merkmal von GBS ist der Verlust der Sehnenreflexe (wie der Kniereflex).
  • Koordinationsprobleme: Schwierigkeiten bei der Koordination von Bewegungen, Gleichgewichtsstörungen.
  • Schmerzen: Starke, tiefe Schmerzen, besonders in Rücken, Hüften und Beinen, die auf Schmerzmittel oft nicht gut ansprechen.

Schwere Komplikationen:

  • Atemprobleme: In etwa einem Drittel der Fälle ist die Atemmuskulatur betroffen, was zu Atemnot führen und eine mechanische Beatmung erforderlich machen kann.
  • Autonome Dysfunktion: Störungen des autonomen Nervensystems können zu Herzrhythmusstörungen, Blutdruckschwankungen, Verdauungsproblemen und Blasenfunktionsstörungen führen.
  • Thrombosen: Durch die eingeschränkte Mobilität besteht ein erhöhtes Risiko für Blutgerinnsel.

Es ist wichtig zu betonen, dass die Schwere der Symptome von Person zu Person stark variieren kann. Während einige Menschen nur leichte Symptome entwickeln und sich vollständig erholen, erleben andere schwere Lähmungen, die eine langwierige Rehabilitation erfordern.

Diagnose des Guillain-Barré-Syndroms

Die Diagnose des Guillain-Barré-Syndroms kann eine Herausforderung darstellen, da die Symptome denen anderer neurologischer Erkrankungen ähneln können. Ärzte stützen ihre Diagnose auf eine Kombination aus klinischer Untersuchung, Krankengeschichte und spezifischen Tests.

Der diagnostische Prozess umfasst in der Regel:

1. Neurologische Untersuchung

Der Arzt prüft Reflexe, Muskelkraft, Sensibilität und Koordination. Bei GBS sind die Reflexe oft abgeschwächt oder nicht vorhanden, und es zeigt sich eine symmetrische Schwäche, die von den Beinen aufsteigt.

2. Lumbalpunktion (Liquoruntersuchung)

Bei dieser Untersuchung wird eine kleine Menge Nervenwasser (Liquor cerebrospinalis) aus dem Rückenmarkskanal entnommen. Bei GBS zeigt sich typischerweise eine erhöhte Eiweißkonzentration, während die Anzahl der weißen Blutkörperchen normal bleibt - ein Befund, der als "zytoalbuminäre Dissoziation" bezeichnet wird.

3. Elektrophysiologische Tests

Nervenleitgeschwindigkeitsmessungen und Elektromyographie (EMG) können helfen, Schäden an Nerven und Muskeln zu identifizieren. Bei GBS ist die Nervenleitgeschwindigkeit oft verlangsamt.

4. Bluttests

Blutuntersuchungen dienen hauptsächlich dem Ausschluss anderer Erkrankungen, die ähnliche Symptome verursachen können.

5. Bildgebende Verfahren

MRT-Untersuchungen können in einigen Fällen hilfreich sein, um andere Ursachen neurologischer Symptome auszuschließen oder Nervenwurzelentzündungen nachzuweisen.

Die frühzeitige Diagnose ist entscheidend, um schnell mit der Behandlung beginnen zu können und schwerwiegende Komplikationen zu verhindern.

Behandlung und Rehabilitation

Die Behandlung des Guillain-Barré-Syndroms erfolgt in zwei Hauptphasen: der akuten Phase im Krankenhaus und der anschließenden Rehabilitationsphase, die je nach Schwere der Erkrankung Monate oder sogar Jahre dauern kann.

Akute Phase: Krankenhausbehandlung

In der akuten Phase ist eine stationäre Behandlung unerlässlich, oft auf einer Intensivstation, um lebenswichtige Funktionen zu überwachen und bei Bedarf zu unterstützen.

Immuntherapien:

  • Intravenöse Immunglobuline (IVIG): Diese Behandlung besteht aus Antikörpern gesunder Spender, die die schädlichen Autoantikörper neutralisieren können. Sie wird über 5 Tage verabreicht und kann den Verlauf der Erkrankung verkürzen.
  • Plasmapherese: Bei dieser Methode wird das Blutplasma, das die schädlichen Antikörper enthält, entfernt und durch eine Ersatzlösung oder gereinigtes Plasma ersetzt. Auch diese Behandlung kann den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen.

Unterstützende Maßnahmen:

  • Atemunterstützung: Bei Beteiligung der Atemmuskulatur kann eine mechanische Beatmung notwendig sein.
  • Thromboseprophylaxe: Maßnahmen zur Vorbeugung von Blutgerinnseln.
  • Schmerzmanagement: Medikamente zur Bekämpfung der oft erheblichen neuropathischen Schmerzen.
  • Kreislaufüberwachung: Bei autonomen Störungen ist eine engmaschige Überwachung von Blutdruck und Herzrhythmus wichtig.

Rehabilitation und Physiotherapie

Nach der akuten Phase beginnt die Rehabilitationsphase, in der die Physiotherapie eine zentrale Rolle spielt. Das Ziel ist, verlorene Funktionen wiederherzustellen und Komplikationen durch Immobilität zu vermeiden.

Elemente der physiotherapeutischen Behandlung:

1. Muskeltraining und Bewegungstherapie
  • Passive Bewegungsübungen in der frühen Phase, um Kontrakturen zu vermeiden
  • Aktive Übungen zur Stärkung der betroffenen Muskelgruppen
  • Progressives Widerstandstraining zur Verbesserung der Muskelkraft
2. Gleichgewichts- und Koordinationstraining
  • Übungen zur Verbesserung der Balance und Stabilität
  • Training der Propriozeption (Wahrnehmung der eigenen Körperposition)
  • Gangschulung zur Wiedererlangung eines normalen Gangbilds
3. Spezielle Techniken
  • Myofasziale Therapie: Diese Technik behandelt Verklebungen und Verspannungen im Bindegewebe (Faszien). Durch gezielten Druck und Dehnung können Beweglichkeit verbessert und Schmerzen gelindert werden.
  • Neuromobilisation: Bei dieser Methode werden sanfte Bewegungen und Dehnungen angewendet, um Nerven zu mobilisieren. Dies fördert die Durchblutung der Nerven, löst Verklebungen und unterstützt die Regeneration der peripheren Nerven. Besonders nach GBS können Nerven verklebt oder durch Narbengewebe eingeengt sein, was die Genesung behindern kann.
4. Atemtherapie
  • Atemübungen zur Stärkung der Atemmuskulatur
  • Techniken zur Sekretmobilisierung bei Betroffenen mit Schwierigkeiten beim Abhusten
  • Training der Zwerchfellatmung
5. Schmerzmanagement
  • Manuelle Techniken zur Schmerzlinderung
  • TENS (Transkutane Elektrische Nervenstimulation)
  • Entspannungstechniken und Biofeedback

Ergänzende Rehabilitationsmaßnahmen:

  • Ergotherapie: Fokussiert auf die Wiedererlangung von Alltagsfähigkeiten und Feinmotorik.
  • Logopädie: Bei Betroffenen mit Schluck- oder Sprechstörungen durch Beteiligung der Gesichts- und Schlundmuskulatur.
  • Psychologische Unterstützung: Hilft beim Umgang mit den emotionalen Herausforderungen, die GBS mit sich bringen kann.

Leben mit GBS: Langzeitperspektiven und Unterstützung

Der Genesungsverlauf nach GBS ist individuell sehr unterschiedlich. Während einige Menschen sich innerhalb von Wochen vollständig erholen, kann es bei anderen Monate oder Jahre dauern.

Genesungsperspektiven:

  • 80-90% der Betroffenen erholen sich vollständig oder behalten nur minimale Einschränkungen.
  • Bei etwa 10-20% bleiben dauerhafte Einschränkungen bestehen, die von leichten sensorischen Problemen bis hin zu anhaltenden Mobilitätseinschränkungen reichen können.
  • Die Genesung verläuft üblicherweise in der umgekehrten Reihenfolge der Symptomentstehung: Zuerst regenerieren sich die zuletzt betroffenen Körperregionen.

Alltag nach GBS:

Mögliche langfristige Herausforderungen:

  • Anhaltende Fatigue (Erschöpfung)
  • Restschwäche in bestimmten Muskelgruppen
  • Sensibilitätsstörungen (Kribbeln, Taubheitsgefühle)
  • Neuropathische Schmerzen

Anpassungsstrategien:

  • Regelmäßige Pausen und Energiemanagement
  • Fortführung von angepassten Übungsprogrammen
  • Anpassungen am Arbeitsplatz oder in der Wohnung
  • Hilfsmittel bei Bedarf (spezielle Griffe, Gehhilfen etc.)

Unterstützungsmöglichkeiten:

  • Selbsthilfegruppen: Der Austausch mit anderen Betroffenen kann sehr wertvoll sein.
  • Fortlaufende therapeutische Unterstützung: Je nach Bedarf können regelmäßige physiotherapeutische oder ergotherapeutische Sitzungen hilfreich sein.
  • Psychologische Begleitung: Zur Verarbeitung der Erkrankungserfahrung und zum Umgang mit anhaltenden Einschränkungen.
  • Sozialberatung: Information über finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten, Hilfsmittelversorgung etc.

Fazit

Das Guillain-Barré-Syndrom ist eine schwerwiegende neurologische Erkrankung, die das Leben von Betroffenen erheblich beeinträchtigen kann. Doch mit einer frühzeitigen Diagnose, adäquaten Behandlung in der Akutphase und einer umfassenden Rehabilitation haben die meisten Menschen mit GBS gute Aussichten auf eine vollständige oder weitgehende Genesung.

Die Physiotherapie spielt dabei eine entscheidende Rolle. Mit ihrem breiten Spektrum an Techniken, von klassischen Kraft- und Koordinationsübungen bis hin zu spezialisierten Ansätzen wie der Neuromobilisation, kann sie wesentlich dazu beitragen, die Folgen von GBS zu minimieren und den Weg zurück in ein aktives Leben zu ebnen.

Wenn du oder ein Angehöriger an GBS erkrankt bist und weitere Informationen oder Unterstützung bei der Rehabilitation benötigst, stehen wir dir gerne zur Verfügung. Gemeinsam entwickeln wir ein individuelles Therapiekonzept, das genau auf deine Bedürfnisse und Ziele abgestimmt ist.

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